Interview mit Joël Weser über Familienstellen, seine Erfahrungen und Visionen (März 2019)

 

Joël, erinnerst Du Dich noch an Deine erste Erfahrung mit dem Familienstellen?

 

Ich wurde seinerzeit von einem Kollegen zu einem Aufstellungstag eingeladen. Ich hatte keinerlei Vorstellung davon, was hier auf mich zukommen sollte. Vieles, was sich mir zeigte, war fremd. Allerdings machte ich als Stellvertreter die frappierende Erfahrung, dass mich unwillkürlich Empfindungen, Gefühle und auch Handlungsimpulse erreichten und bewegten, die mit meiner eigenen Situation offensichtlich wenig oder gar nichts zu tun hatten. Das war beispielsweise ein plötzliches starkes Zittern, ein Schwanken, ein Schwindelgefühl oder auch körperliche Symptome. Verblüffend war, wenn dann von dem Aufstellungsleiter der Klient nach solchen Erscheinungen gefragt wurde, diese mit Erlebnissen, Zuständen und Aussagen der vertretenen Person übereinstimmten. Am erstaunlichsten war, dass ein Stellvertreter, kurz nachdem er den Platz für eine andere Person eingenommen hatte, richtig starke Herzschmerzen bekam. Daraufhin kam von dem Klienten die Information, dass die  hier vertretene Person vor kurzem einen Herzinfarkt hatte. Im Weiteren konnte ich beobachten, dass es den meisten zum Teil schwer belasteten Menschen nach den Aufstellungen besser bis wesentlich besser ging.

 

Was hat Dich bewogen, selbst Aufstellungen zu leiten?

 

Auch wenn ich die Bewegungen und die Vorgänge zu Beginn nicht verstand, übte diese Herangehensweise eine große Anziehung auf mich aus. Ich ging zu vielen Seminaren, Tagungen und Kongressen, die das Familienstellen zum Thema hatten. Vor allem ließ ich keine Veranstaltung aus, in der ich Bert Hellinger erleben konnte. Zudem setzte ich das Gelernte sofort in meiner Arbeit mit Menschen um, so dass ich immer tiefer in die systemisch/seelischen Zusammenhänge und die phänomenologische Haltung hineinfand.

 

Wie würdest Du einen guten Aufsteller beschreiben?

 

Bert Hellinger sagte oft: „Familienstellen kann man nicht lernen, man wächst hinein.“ Das ist auch für mich eine wesentliche Einsicht. Die Tiefe und Weite der Aufstellungen ist unmittelbar abhängig von der Tiefe und Weite des Bewusstseins und der Präsenz des Aufstellers.  „Die Jungen machen die leichte Arbeit, die alten machen die schwere Arbeit“ ist eine weitere Aussage von Bert Hellinger.

Um Menschen in einer belastenden Situation eine Unterstützung anbieten zu können, dass sie ihres finden und tun können, ist es grundlegend, sich in einer Haltung zu befinden, durch die wir nicht in das Problem hineingezogen zu werden.

Auf der betrieblichen Ebene ist das leicht zu verstehen. In einem Unternehmen ist zum Beispiel ein Problem entstanden, das die Produktivität oder den Bestand des Unternehmens gefährdet. Um dieses Problem lösen zu können, braucht es jemanden, der von außen kommt, der nicht in der Betriebsblindheit der zum Unternehmen Gehörenden steckt. Es muss ein Externer sein. Einstein hat dazu sinngemäß gesagt: „Man kann ein Problem nicht mit dem Bewusstsein lösen, das es erschaffen hat.“ Der Aufsteller braucht also eine Haltung und eine Wahrnehmung, die umfassend ist und bleibt. Tritt er in die Sichtweise der Betriebsangehörigen ein, hat er seinen Status als Externer verloren und ist nunmehr auch betriebsblind.

 

Ein weiterer wichtiger Punkt ist, dass der Aufsteller den Dingen zustimmen muss wie sie sind, den schweren wie den leichten, den schrecklichen ebenso wie den moralisch verwerflichen. In dem Moment, wo er in die Wertung geht, entzieht er sich dem unmittelbaren Kontakt mit der Person und den zu ihr Gehörenden. Damit verschließt sich der Raum für eine wesentliche, lösende Bewegung und Erkenntnis.

 

Von der Haltung her ist der Aufsteller schon da, wo der Klient noch hin muss. Das heißt konkret:

 

Der Klient kommt in Spannung und ist nicht schwingungsfähig - der Aufsteller ist körperlich gelöst, spürfähig und durchlässig empfindsam.

 

Der Klient kommt mit einer engen, auf das Problem fixierten Wahrnehmung –

der Begleiter bleibt in einer weiten umfassenden Wahrnehmung, er grenzt nichts aus.

 

Der Klient ist energetisch oben (abgehoben) - der Begleiter gelandet,

                     dto.              aufgelöst                - der Begleiter gesammelt,

                     dto.             außer sich               - der Begleiter ruht in sich,

                     dto.         dicht (verschlossen)    - der Begleiter offen

                  

Der Klient kommt im Widerstand gegen seine Situation oder eine Person –

der Begleiter stimmt dem Widerstand und dem Abgelehnten in seinem Vorhandensein zu.

 

Der Klient dreht sich im Ich-Kokon um sich und seiner Belastung - der Begleiter ist in einer gesammelten Zugewandtheit da.

 

Der Klient ist in den meisten Fällen abgetrennt. Er fühlt sich der Situation und den Bedingungen alleine ausgesetzt - der Begleiter befindet sich in einem Zustand der seelischen Verbundenheit mit dem Klienten und den Menschen und Situationen, die zu ihm gehören.

 

Hat der Aufsteller für diese Vorgänge keine Wahrnehmung, spürt also die Einladungen, die vom Klienten auf ihn zukommen nicht, dann tritt er unbewusst in den Zustand des Gegenübers ein. Er geht auch in Spannung, auch in die Fixierung, in den Widerstand, in die Unruhe usw. Diese Vorgänge gestalten sich unmittelbar und bleiben meist unbewusst.  Wir kennen das über die Formulierung „das hat mich angesteckt“, sei es ein Gähnen, eine Unruhe, schlechte Laune oder ein Lachen. Bleibt der Aufsteller jedoch in seiner gesammelten, zustimmenden, zugewandten Haltung mit Überblick da, so ist ER eine Einladung für den Klienten, auch selbst in eine solche Haltung zu finden.

 

Je mehr der Aufsteller dem Menschsein in seinen vielen Aspekten zustimmen kann, so auch der eigenen Begrenztheit, umso mehr kann er in den Aufstellungen auf das Wissenwollen, um was es geht, verzichten. Er spannt sich auf wie ein Segel und geht mit den Phänomenen, die sich ihm aus der Situation heraus zeigen. Sei es ein Wort, ein Satz, eine Bewegung, ein Handlungsimpuls... Er geht mit dem, was aus der Ruhe kommt. Das Argumentieren, das Unruhige, das Drängende, ja das schnell bedrohlich Werdende kommt aus unseren Gewissensstrukturen, unseren Konventionen, Vorstellungen, der Moral und den vertrauten, damit zusammenhängenden Bewertungen und hat mit einer tiefliegenden Bewegung, einem wissende Feld, oder wie immer wir das nennen wollen, nichts zu tun. Wir gehen mit dem Nichtvorhersehbaren, absichtslos, selbstvergessen, gewissenlos und gedankenlos.  

 

Ein guter Aufsteller ist nicht gut, sondern einfach präsent da mit dem, wie es sich zeigt und ist.

Er stellt sich rückhaltlos staunend der Bewegung zur Verfügung.

 

Bert Hellinger spricht manchmal vom „wissenden Feld“. Wie ist Deine Erfahrung mit diesem Feld?

 

Das ist ein Begriff, der etwa vor 20 Jahren von Dr. med. Albrecht Mahr (Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Psychoanalytiker und Systemtherapeut. Leiter von ISAIL – Institut für Systemaufstellungen und Integrative Lösungen und des IFPA – Internationales Forum Politische Aufstellungen) eingeführt wurde. Er wurde in der Folge auch hin und wieder von Bert Hellinger benutzt.

 

Mit diesem Feld ist in etwa gemeint, dass durch die Wahrnehmungsweise und die Haltung des Aufstellers (phänomenologische Haltung) ein Feld entsteht, in dem sich über die Stellvertreter eine Bewegung auf Lösung hin entwickelt. Der Verlauf dieser lösenden Bewegung ist in Zeit, Art und Weise vorher nicht absehbar. Sie folgt daher einem Wissen, das sich uns als Aufsteller, als Beobachter wie auch als Stellvertreter und Klient erst im Aufstellungsprozess in seiner Weise offenbart. Diese immer wieder neu zu machende Erfahrung, dass es sich von alleine, in einer nicht vorhersagbaren Weise entfaltet, ließ Albrecht Mahr die Formulierung des „wissenden Feldes“ finden.

 

Wenn Du gefragt wirst, was da wirkt, also bei System- und Familienaufstellungen - wie beantwortest Du diese Frage?

 

Eine solche Frage beantworte ich nicht in der für uns gewohnten Weise verbal, sondern ich lasse die Person, wenn Sie dazu bereit ist, dazu eine unmittelbare Erfahrung machen. Das ist sehr leicht. Beispiel: Ich sage zu der Person „Stell dich mal hier hin, du stehst jetzt hier als mein kleiner Sohn.

Du brauchst dir keinerlei Gedanken machen, sondern gehst einfach auf Empfang, aufgespannt wie eine Satellitenschüssel, ganz auf Empfang. Spürst du, was in dir jetzt geschieht? Ich stelle mich jetzt hier (etwa 2,5 m) entfernt als dein Vater hin. Jetzt stelle ich mir vor, dass hinter mir meine Eltern, also deine Großeltern stehen. Dann drehe ich mich für einen Moment zu ihnen um und gehe in Beziehung zu ihnen und dann schaue ich dich wieder an.“

Dann drehe ich mich wieder zu den vorgestellten Eltern um und gehe in wirkliche Ablehnung und Trennung, zum Beispiel mit dem Satz: „Ihr wart ja nie da, ich will nichts von euch wissen.“

Dann drehe ich mich wieder zu dem Sohn und schaue ihn aus dieser Haltung heraus an. Für mich ist sofort zu spüren, wie er sich mir gegenüber verschließt, manchmal gerät er auch ins Schwanken und weicht etwas zurück.

Dann drehe ich mich ein zweites Mal zu den Eltern um und finde in die in mir vorhandene Zugewandtheit und Dankbarkeit. Dann wende ich mich wieder dem Sohn zu. Dieser ist nunmehr offen und schaut freundlich und erleichtert. Das ist auch genau die Erfahrung, die der Fragesteller macht. Dieses unmittelbare Erleben ist in der Regel sehr beeindruckend und ihr folgt daher keine Diskussion. 

 

Ich weiß, dass Du in Deinem Beruf als Sozialarbeiter oft mit sogenannten „schweren“ Jungs gearbeitet habst. Inwiefern hat die systemische Aufstellungsarbeit dabei eine Rolle gespielt?

 

Ja, ich habe 40 Jahre in den verschiedensten Zusammenhängen, unter anderem auch in einer psychiatrischen Kinder-und Jugendlichenambulanz mit solchen Jungs gearbeitet. Ich habe dazu einen für mich sehr wichtigen Text “Coole Jungs und die Systemaufstellung“ im Buchtitel-Verlag veröffentlicht. Das Wesentliche für mich waren und sind die von Bert Hellinger gefundenen Ordnungen der Liebe, Ordnungen des Helfens und seine bahnbrechende Entdeckung der Gewissensebenen und der Gewissensstrukturen.

Wir Menschen können uns selbst und andere, so auch die Kinder, nur verstehen, wenn wir uns als Teil unseres sozialen Mobiles erkennen können. Wir können in ein systemisches oder - mir näher - ein seelisches Verständnis hineinfinden, in dem sich uns Dinge eröffnen, die uns sonst verschlossen bleiben. Die wesentliche Frage, die sich in mir, in der Begegnung mit diesem belasteten jungen Menschen herausgestellt hat ist: „Wohin geht dabei seine Liebe?“ Hier, an dieser Stelle nur ein Beispiel dazu.

Es gibt in jedem Menschen ein persönliches Gewissen. Dieses persönliche Gewissen ist nicht etwa bei jedem gleich, nein, es bezieht sich immer auf die eigene Familie oder die eigene Gruppe. Ich fragte mal einen Familienrichter, auf welches Gewissen er denn vereidigt wurde? Er schaute mich erstaunt an und sagte: „Naja, auf das Gewissen eben.“ Ich stellte ihm eine zweite Frage: „Ist es das Gewissen eines Jungen aus den Slums, der stehlen muss, damit seine Familie überleben kann, oder ist es das Gewissen eines Jungen aus einer gutbürgerlichen Familie, der nicht stehlen darf? Der eine hat ein gutes Gewissen dann, wenn er stiehlt und damit den Erhalt seiner Familie sichert und der andere hat ein schlechtes Gewissen wenn er stiehlt, weil er dann Angst hat, aus dem Wertegefüge seiner Familie herauszufallen.“ Der Richter war irritiert. Aus welchem Gewissen wird er wohl richten und wird er den Bedingungen des jeweiligen Menschen gerecht werden, ja kann er sie überhaupt sehen und erkennen?

Nehmen wir nun den Jungen aus der gutbürgerlichen Familie. Es gibt nämlich noch eine zweite Gewissensebene: das kollektive Gewissen. Dieses Gewissen sorgt unbewusst dafür, dass niemand aus der Familie herausfällt. Da gibt es zum Beispiel den verachteten Onkel, der Gott sei Dank vor 20 Jahren nach Amerika ausgewandert ist, das war ein richtig schräger Vogel...

Das unbewusste kollektive Gewissensfeld lässt es nun nicht zu, dass dieser verachtet und ausgegrenzt wird. Und so geschieht es, dass hier in Europa in dieser Familie ein Junge auf die Welt kommt, der die Verhaltensweisen dieses ausgegrenzten Onkels zeigt, ohne seinen Onkel zu kennen. Die Familie ist bestürzt. Der wird ja genauso wie der Onkel Albert.

Durch dieses kollektive Gewissen gezwungen, den ausgegrenzten Onkel Albert zu erinnern, verhält sich der Junge nicht mehr so, wie es die Werte seiner Familie fordern. Er stößt auf Unverständnis und wird zunehmend ausgegrenzt. Keiner versteht ihn, er ist nur seltsam, ist daneben und untragbar. Er gefährdet aus einer tiefen Liebe heraus seine Zugehörigkeit zur Familie.

 

Diese Zusammenhänge offenbaren sich über die Aufstellungsarbeit. Das muss nicht unbedingt mit Stellvertretern passieren. Es gibt viele Möglichkeiten, zum Beispiel über Symbole aufzustellen. Ich habe schon wirkungsvolle Aufstellungen mit Kaffeetassen und Gläsern, in einem Café sitzend, gemacht.

 

Was sind Deiner Meinung nach die Gründe, dass die Aufstellungsarbeit noch so wenig in sozialen Zusammenhängen genutzt wird, z.B. in der Therapie, in Schulen, bei der Jugendhilfe oder bei der Flüchtlingsarbeit?

 

Nun, wenn wir auf die Aufstellungsarbeit insgesamt schauen, ist zum einen festzustellen, dass sie langsam immer mehr Raum einnimmt. Es gibt aber offensichtlich eine große Skepsis bei uns, wenn Dinge und Vorgänge nicht kalkulierbar und kontrolliert ablaufen. Wir sind sehr in dem linearen und kausalen Denken verhaftet und stehen dem, was darüber hinausgeht, oftmals mit Skepsis gegenüber. Erschwerend ist für uns, dass die seelischen Vorgänge für unseren Kopf paradox erscheinen. Auf der seelischen Ebene zeigt sich ganz leicht, dass das, was wir ablehnen, gerade durch unseren Widerstand an Kraft gewinnt. Unser Verstand dagegen sagt: „Wie kann sich denn etwas, was ich nicht will, verändern, wenn ich dem voll und ganz zustimme?“ 

Aber wesentlich ist, dass in den letzten 20 Jahren ganz viel Wissen, das sich uns über die Aufstellungsarbeit eröffnet hat, in alle Bereiche hinein Einzug genommen hat. Auch viele Methoden und Herangehensweisen, die sich von Bert Hellinger und der Aufstellungsarbeit distanzieren, arbeiten inzwischen ganz selbstverständlich mit Anteilen dieser Herangehensweise, manchmal auch, indem sie ihr einen anderen Namen geben. Ich begrüße das sehr, weil es darum geht, dass es den Menschen im Leben und in ihren Beziehungen und der Liebe dient.

Systemisch gesehen schwächt es uns allerdings, wenn wir mit etwas arbeiten, von dem wir die Wurzeln oder den Gründer leugnen. Das ist auf der seelischen Ebene mit etwas vergleichbar, was alle Menschen betrifft. Wie kann ich mein Leben voll annehmen und ausgefüllt leben, wenn ich es von meinen Eltern nicht aus vollem Herzen und Dankbarkeit nehme. Wenn ich nach hinten, von wo das Leben zu mir gekommen ist,  in Abwehr stehe, kann ich nach vorne, wo mein Leben hingeht, nicht offen und zugewandt da sein.

Bert Hellinger selbst hat seine Wurzeln und die, von denen er gelernt hat, schon in seiner ersten Veröffentlichung benannt. Und immer wieder habe ich erlebt, dass er von den Menschen, von denen er gelernt hat, gesprochen hat.

 

In anderen Ländern und Kulturen findet hier etwas ganz anderes statt. Zum Beispiel in Brasilien. Als Dozent der Ausbildungen von Bert und Sophie Hellinger bin ich an Projekten beteiligt, in denen inzwischen Hunderte von Menschen im juristischen Bereich, also juristische Angestellte, Rechtsanwälte, Richter, Staatsanwälte und andere zu Aufstellern ausgebildet werden. Diese Ausbildungen werden von Regierungsseite gefördert und laufen in Zusammenarbeit mit brasilianischen Hochschulen. Hier werden zum Beispiel von Familienrichtern Aufstellungen mit Paaren gemacht, die sich trennen wollen. Die Erfahrung ist frappierend. In den allermeisten Fällen gibt es nach der Aufstellung keine juristische Prozedur mehr und 30 % der Paare bleiben zusammen.

 

In Mexiko gibt es eine Schule, die über 500  Lehrkräfte verfügt und 7000 Schüler und Studenten umfasst. Diese Schule arbeitet nach dem sogenannten „Hellinger-Work“ und umfasst Vorschüler bis hin zu Doktoranden. Hier ist es für alle selbstverständlich, Entscheidungen, Probleme, Konflikte und Belastungen über Aufstellungen zu lösen.

 

In China arbeiten wir mit mehreren Ausbildungsgruppen von jeweils über 80 Studenten zusammen. Hier sind alle Berufe vertreten, Lehrer, Hausfrauen, traditionell-chinesische Ärzte, schulmedizinische Ärzte, Unternehmer, Kindergärtner und so weiter. Darüber hinaus laufen unter anderem Weiterbildungsangebote in Argentinien, Russland, Italien und der Schweiz.

 

Was sind Deiner Meinung nach die Vorbehalte und Gegenargumente der staatlichen Einrichtungen, aber auch vieler privater Träger, sich für diese Arbeit zu öffnen?

 

Ein wesentlicher Aspekt in unserer deutschen Kultur ist die Wissenschaftsgläubigkeit. Dabei ist allerdings festzustellen, dass wesentliche neuere Erkenntnisse zum Beispiel über die Quantenphysik, im Bewusstsein der Menschen, der Institutionen nicht ankommen. Gerade aber hier, über die Quantenphysik, lassen sich viele Zusammenhänge und Vorgänge, auch zu den Fragen, was hier eigentlich diese lösenden Bewegungen verursacht, finden. Für die Quantenphysik ist es klar, dass jede Information überall im ganzen Universum vorhanden ist und dass eine neue Information, die einem Quanten, diesem kleinsten Materieteil zugeführt wird, praktisch zur gleichen Zeit in allen Quanten des Universums vorhanden ist. Die Information ist an keinen Ort gebunden, sie ist „nonlokal“.

Dies ist unter vielem anderen ein interessanter Aspekt, der sich einem Verständnis, was dieses „wissende Feld“ denn eigentlich ist, annähert.

 

Es gibt so viele Methoden und Herangehensweisen, die wissenschaftlich hergeleitet und begründet werden, aber wohl kaum eine, die vom Erkenntniswert und ihrer tiefen und umfassenden Wirkung in ähnlicher Weise bedeutsam ist wie die Aufstellungsarbeit.

Was wirkt, hat recht und von daher sehe ich der Zukunft der phänomenologischen Aufstellungsarbeit mit Freude und Vertrauen entgegen.

Darüber hinaus ist immer wieder die Erfahrung zu machen, dass bahnbrechende, neue Dinge großen Widerstand mobilisieren. Sich von vertrauten, lieb gewonnenen Vorstellungen und Gewohnheiten zu trennen, ist für uns oftmals schwer. Das können wir allerorten und in der Regel auch bei uns selbst beobachten. Es gibt ein großes Beharrungsvermögen im Alten, in der Komfort-Zone, zu bleiben.

 

Ich selbst kenne über Bert Hellingers Schriften und seine Aussagen im Rahmen vieler Veranstaltungen und Begegnungen die große Bedeutung, die Bert Hellinger der Wirkung von Feldern beimisst. Konkret habe ich seine Begegnungen und auch Erkenntnisse, die er mit dem britischen Autor und Biologen Rupert Sheldrake teilt, beobachten können. Sheldrake hat über viele Versuche Wirkzusammenhänge beobachtet, die er in seiner Theorie der „morphischen Felder“ zusammenführte. Wir Menschen sind immer Teil von Feldern, die auf uns einwirken und auf die wir einwirken. Zum Beispiel als Teil unseres Familienfeldes. Hier prägt uns unter anderem zutiefst unsere persönliche Gewissensstruktur, durch die wir an die Einhaltung der Werte und Regeln unserer Herkunftsfamilie gebunden sind. Die Wirkung von Feldern geht jedoch weit über das Familienfeld hinaus. Jede Gruppe, jede Partei, jeder Verein, jeder Volksteil, jedes Volk usw. bildet ein Feld, das die einzelnen Teile bewegt.

 

Bert Hellinger hat viele Kongresse durchgeführt, mit Psychologen, Therapeuten, Lehrern, Ärzten usw. Das waren hunderte oder gar tausende Teilnehmer im Laufe der Jahre. Warum ist nach Deiner Ansicht Bert Hellingers Arbeit in dieser Gruppe noch nicht umfassend ausgebreitet?

 

Bis etwa 2005 waren im Feld der sich ausbreitenden Aufstellungsarbeit viele Ärzte, Psychologen und Therapeuten, die die Aufstellungsarbeit als eine wesentliche neue therapeutische Herangehensweise für dieses ihr Feld reklamiert haben. In dem Moment, wo Bert Hellinger diese Exklusivität überschritten hat, entstand eine Spaltung in diesem Feld. Bert Hellinger erkannte, dass diese Arbeit in alle Lebensbereiche hinein Bedeutung hat und hineingehört. So veränderten sich seine Adressaten schnell. Es gab Kongresse zur allen Feldern der Sozialarbeit und für Themen aus allen Lebensbereichen. Gleichzeitig veränderte sich ab diesem Zeitpunkt die Aufstellungsarbeit von ihm. Während zu Beginn der Aufstellungsarbeit der Aufsteller stark in das Geschehen eingriff, ausprobierte, Lösungssätze einbrachte und die Stellvertreter auf andere Plätze verschob, nahm sich Bert Hellinger immer mehr zurück. Er ließ die Stellvertreter in ihrer Bewegung frei, nahm andere Elemente mit hinein, die er zum Teil nicht benannte und manchmal vollzogen sich diese Aufstellungen ohne ein Wort. Diese Arbeit nannte er „Bewegungen der Seele“.

Für viele Aufsteller, die das vorherige noch recht direktive Aufstellen gelernt hatten, war diese Veränderung nicht mehr mit nachzuvollziehen und sie blieben dem Alten verhaftet. Und je mehr Bert Hellinger sich weiter in seiner Haltung veränderte, indem er das Feld immer mehr vergrößerte und sich als Aufsteller immer mehr zurücknahm, spaltete sich das Feld. Viele seiner früheren Schüler zogen sich von ihm zurück, vor allem die aus dem Feld der Therapeuten, Ärzte und Psychologen.

 

Für Bert Hellinger ist die Aufstellungsarbeit etwas, was Bedeutung für jeden Lebensbereich hat und von daher sind in den heutigen Ausbildungsgruppen Menschen aus allen beruflichen Feldern anzutreffen, sowie Menschen, die aus ganz persönlichen Gründen kommen, um ihr Leben und ihre Beziehungen zu vertiefen.

 

Bert Hellinger wird u.a. vorgeworfen, unverantwortlich mit seinen Klienten umzugehen, da er bewusst auf Vorsorge und Nachsorge verzichtet. Wie betreibst Du die Vor- und Nachsorge, wenn Du Aufstellungen leitest?

 

Alleine der in Deiner Frage benutzte Begriff „Sorge“ hat auf die Seele des Gegenübers keine gute Wirkung. Das wird von den meisten Menschen bisher nicht verstanden bzw. wahrgenommen. Wenn ich zum Beispiel um mein Kind in Sorge bin, drehe ich mich sozusagen im Ich-Kokon um meine eigene Angst und werfe meine Angst auf das Kind. In diesem Zustand kann ich das Kind in dem, was es selbst bewegt, zum Beispiel eine Angst, nicht wahrnehmen. Ich opfere es in dieser Situation meiner Sorge. In dem Moment, wenn ich aus dem Ich-Kokon heraustreten und zu dem Kind wirklich in Beziehung treten kann, entspannt sich das Kind und es fühlt sich gesehen und angenommen und atmet auf.

Im Gegensatz dazu höre ich immer wieder Aussagen wie: „Ja, wenn man wirklich liebt, dann sorgt man sich.“ Dieser Haltung schwächt uns selbst und das Kind. Das Kind spürt unser Misstrauen dem Leben gegenüber und es hat das Gefühl, dass es uns als Erwachsenem wegen ihm nicht gut geht. Als sich Sorgende, Kümmernde sind wir hilflose Helfer und in der Regel dem Klienten ähnlich.

 

Ich habe diesen Vorwurf der mangelnden Vor - und Nachsorge gegenüber Bert Hellinger auch gehört. Ich weiß aber auch, dass er auf Briefe geantwortet und mit Menschen am Telefon gearbeitet hat oder mit ihnen in einem folgenden Seminar weitergearbeitet hat. Es kam auch immer wieder vor, dass er im Verlauf eines Seminars noch einmal mit einer Person weitergegangen ist.

Bert Hellinger hat dazu oft sinngemäß gesagt: Ich begegne den Menschen als Erwachsene und nehme ihnen die Verantwortung für ihr Leben nicht ab, das würde sie wieder zu Kindern machen.

 

Manchmal habe ich auch erlebt, dass Beobachter sein Verhalten zum Klienten als hart, beziehungslos oder unverantwortlich bezeichnet haben. Meine Beobachtung war eine andere. Bert Hellinger konnte, in einer von mir noch nie vorher beobachteten Weise, eine tiefe zugewandte Beziehung zum Gegenüber halten. Bei seiner außergewöhnlichen Wahrnehmungsfähigkeit spürte er sofort, wenn ein Klient ihn zum Beispiel in eine Projektion einbinden wollte, um damit die Situation in einer ihm vertrauten Art und Weise zu strukturieren und zu kontrollieren. Auch wenn er dann zu dieser Person in einer ganz klaren Weise sagte: „Das geht mit mir nicht.“, hielt er die Beziehung. Es war ein beziehungsstiftendes „Nein“. Das kannte ich persönlich vorher auch nicht.

Was wäre denn im Lösungssinne noch möglich, wenn ein Begleiter, ein Therapeut oder eine Führungskraft auf solche alten, vertrauten, abdeckenden beziehungsstrukturierenden Verhaltensweisen eingehen würde?

Natürlich nichts!

Wenn eine solche Person dann ein klares „Nein“ dazu bekommt, dann kann es sein, dass sie verletzt ist, vielleicht auch empört. Und die vielen Beobachter, die für Übertragungsphänomene oder anderes keinen Blick haben, gehen möglicherweise auch in die Empörung. Und so habe ich schon erlebt, dass 80 % der Menschen einer Veranstaltung in das abdeckende Drama einer Person einstiegen, die es gewohnt war, andere Menschen als Publikum mit ihrem Beziehungsmuster zu funktionalisieren.

 

Ich selbst bin vor und nach Aufstellungsseminaren erreichbar. Allerdings gehe ich auf keinen Versuch ein, mich in abdeckende oder mustererhaltende „Beziehungsspiele“ einzubinden. Ich decke diesen Vorgang in einer zugewandten Weise auf. Viele, die diesen Zusammenhang nicht erkennen, sind selbst in alten beziehungsverhindernden Mustern gefangen und erhalten damit das Problem oder die Belastung des Gegenübers.

 

Zudem bleibt es ein Wagnis und ein Risiko, bereit zu sein, andere Menschen in belastenden Situationen, also oft auch in Grenzsituationen, zu unterstützen. Es gibt keine wirkliche Sicherheit, dass es gut ausgeht.

So geschieht es auch in geschlossenen Psychiatrien, in denen viele hoch qualifizierte Ärzte, geschultes Fachpersonal und damit auch eine dichte Kontrolle vorhanden ist, dass Patienten sich umbringen. 

 

Inzwischen ist es möglich, sich als Familienaufsteller nach Bert Hellinger an der „Hellinger Sciencia“ in Berchtesgaden,  einer „von der Regierung Oberbayerns anerkannten Schul- und Bildungseinrichtung“ (www.hellinger.com), ausbilden zu lassen. Du selbst arbeitest dort schon über 11 Jahre als Dozent mit. Hast Du Kenntnis davon, in welchen Bereichen die Studienabgänger nach ihrer Ausbildung dann arbeiten?

 

In allen beruflichen und privaten Bereichen sind diese anzutreffen. Sie sind vor allem im schulischen und in den verschiedenen Bereichen der sozialen Arbeit anzutreffen.

Eine weitere Gruppe arbeitet im unternehmerischen Kontext als Führungskraft, als Unternehmensberater, Coach oder Unternehmer selbst. Es gibt Rechtsanwälte, die mit dieser Herangehensweise arbeiten, Menschen, die am Theater bei der Erarbeitung ihrer Stücke mit Aufstellungen arbeiten, Ärzte, Therapeuten, Heilpraktiker, Sozialarbeiter und solche, die als Aufsteller in unterschiedlichsten Kontexten ihre Unterstützung anbieten.

Ich kenne viele Aufsteller, die in der Schule, der Schulsozialarbeit oder in vielen anderen Bereichen tätig sind, oftmals über Supervision, Teamentwicklung oder Coaching. Ich selbst coache Arbeitsgruppen und Sozialarbeiter und Lehrer, die in der Inklusion von Schülern tätig sind, die in der Suchtberatung Hilfe leisten, die mit behinderten Menschen arbeiten und die Jugendliche und Kinder in den unterschiedlichsten Zusammenhängen begleiten.

 

Kannst Du Dir vorstellen, dass das Familienstellen nach Bert Hellinger als Unterrichtsfach flächendeckend in bestehende Studiengänge wie z.B. Soziale Arbeit, Pädagogik oder Psychologie an Universitäten, Hochschulen und ähnlichen Einrichtungen integriert wird?

 

Natürlich kann ich mir das vorstellen. Doch noch gibt es einen großen Widerstand. Die Ausbildung an den Hochschulen ist zum Teil so losgelöst von der Praxis, dass die Menschen, die dann als Lehrkräfte oder Sozialarbeiter unmittelbar im Arbeitsfeld stehen, mit den konkreten Herausforderungen alleine gelassen werden. Immer mehr Kindern aus belasteten Familien mit schwierigen Verhaltensweisen zu begegnen, ohne zu wissen, was bei ihnen in der Seele oder über die Gewissensstrukturen geschieht, schwächt alle Beteiligten.

Damit wird ein Klima geschaffen und aufrechterhalten, das solche sozialen Strukturen verhindert, die einen Lern- und Lehr- und Freiraum eröffnen, in dem Kooperation, Motivation, Forschergeist, Lebensfreude und Gesundheit möglich sind.

 

Bert Hellinger hat oft auch im Ausland Aufstellungen und Seminare geleitet und für die Hellinger-Schule bzw. Hellinger-Sciencia bist Du in den letzten Jahren auch oft im Ausland gewesen. Was ist Dein Eindruck von der Akzeptanz des Familienstellens im Ausland?

 

Konkret in Brasilien machen wir gegenwärtig die Erfahrung, dass es hier eine große Offenheit und ein großes Interesse an der Aufstellungsarbeit gibt. Ich erlebe, dass die Menschen für die vielen Fragen, die sich ihnen in ihrem Leben und ihren Lebensbedingungen stellen, wesentliche Erfahrungen, Einsichten und Erkenntnisse in der Aufstellungsarbeit finden. Die Hellinger-Schule bietet inzwischen mehrere Ausbildungsgruppen an, alleine im juristischen Bereich sind es im Moment drei Gruppen von jeweils 80 und mehr Teilnehmern. Vor einem halben Jahr haben sich für die neue Ausbildungsgruppe in kürzester Zeit 400 Menschen angemeldet, so dass mehrere Ausbildungsgruppen daraus entstehen mussten.

Momentan gibt es in Brasilien eine politische Initiative, allen Menschen den kostenlosen Zugang zur Familienaufstellung zu ermöglichen.

Vor einem Jahr hatte Frau Hellinger in São Paulo spontan den Gedanken, am nächsten Abend eine öffentliche Veranstaltung zum Thema Erfolg anzubieten, die ich durchführen sollte. Schnell wurde ein Raum organisiert und die Information ins Netz gestellt und am nächsten Abend hielt ich einen Vortrag vor über 250 Teilnehmer.

In China sind innerhalb von zwei Jahren mehrere große Ausbildungsgruppen entstanden. Hier, so erlebe ich es, gibt es ein riesiges Bedürfnis, sich aus persönlichen Belastungen und Begrenzungen zu lösen. Es gibt aber auch ein Interesse an den Organisationsaufstellungen, also der Arbeit und der Entwicklung in Unternehmen. Dabei ist es wichtig, nicht unsere Vorstellungen, wie das Leben zu sein hat, auf diese Menschen zu übertragen. Sie haben eine große Identifikation mit ihrem Land und mit ihrer großen Kultur. Ich habe viele Chinesen kennengelernt, die in Europa studiert haben und mir mitteilten, dass sie immer wieder gefragt wurden, warum sie denn in ihr Land zurückkehren wollen, wo da doch alles so unfrei sein. Sie konnten sich in ihrer Identifikation und in ihrer Verbundenheit zu ihrem Land nicht verständlich machen. Für die meisten war es fraglos, dass sie in China leben wollen. Also auch mit dem Überschreiten von inneren Begrenzungen bleiben sie im Allgemeinen auf ihren Lebenskontext bezogen.

 

Zum Abschluss möchte ich Dich nach Deiner Vision fragen, wie sich das Familienstellen in den nächsten Jahren weiterentwickeln wird.

 

Wie oben schon erwähnt, schaue ich da nicht nur auf die Aufstellungsarbeit als Herangehensweise, sondern sehe, wie viele wichtige Inhalte und Einsichten, die sich über das Familienstellen immer wieder neu zeigen, in allen Lebensbereichen Raum nehmen. Dies und die große, ja ich glaube sagen zu können, einzigartige Wirksamkeit dieser Herangehensweise wird sich einfach immer mehr durchsetzen. In der gegenwärtigen Entwicklung unserer gesellschaftlichen und sozialen Bedingungen vergrößern sich die körperlichen und psychischen Belastungen der Menschen und die Suche und das Tasten nach dem, was helfen kann, wird weiter zunehmen.

 

Ich habe nun das wunderbare Geschenk, jährlich Hunderten von Menschen mit und über  Familien- und Organisationsaufstellungen zu begegnen. Dabei erlebe ich unentwegt, wie es die Menschen bereichert. Sie öffnen sich, kommen in Kontakt zu sich, zum „Du“ und zum „Wir“ und können sich in einer erfüllenderen Weise dem Leben und der Liebe zuwenden.